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Prominente Juristen machen sich für Unschuldsvermutung stark

By 19. Februar 2016März 23rd, 2023Allgemein

Unter der Überschrift „Prominente Juristen machen sich für Schalker Ultras stark“ erschien am 17.02.2016 der verlinkte Artikel in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung, der auch im überregionalen Teil auf Seite 3 abgedruckt wurde. Da dieser Artikel mich persönlich anspricht und hier so einige Dinge Anlass für eine Erwiderung geben, nutze ich meinen kleinen und feinen Blog für diese Antwort.

Im Artikel wird meine Tätigkeit für die Königsblaue Hilfe, einem Rechtshilfeverein für Schalkefans erwähnt und mit einem bewusst kritischen Unterton geschildert, dass die Anwälte der KBH offensiv die Rechte von Mitgliedern der „Hugos“, einer Schalker Ultragruppierung, vertreten würden. Nicht, dass es nicht sowieso die Aufgabe von VerteidigerInnen ist, Menschen gleich welcher weltanschaulichen Herkunft gegen alle nur denkbaren Vorwürfe des Staates zu verteidigen. Ich fasse es daher als Kompliment auf, wenn das Wahrnehmen von Rechten offenbar so erfolgreich sein muss, dass es dies in den überregionalen Zeitungsteil schafft. Was mich (und viele andere) ärgert, ist der damit einhergehende Vorwurf, dass eine Zeitung kritisiert, dass so etwas wie Verteidigungsrechte überhaupt ausgeübt werden. Als würde es Menschen oder Vorwürfe geben, die man nicht bzw. gegen die man sich nicht verteidigen dürfte.

Aber gehen wir Punkt für Punkt vor:

 

1.

Die Königsblaue Hilfe ist nicht die Rechtsabteilung der Hugos. Der Verein bietet anwaltliche Unterstützung für alle SchalkerInnen, falls mal jemand in die Mühlen der Justiz gerät. Übrigens in fast(!) allen(!!) Fällen unschuldig. Das Problem der Presse, insbesondere der gerichtsbeobachtenden Presse, liegt ja darin, dass die Erkenntnisquellen gering sind. GerichtsberichterstatterInnen bedienen sich in der Regel der Beobachtungen aus den Verhandlungen. Daneben aus den Pressemitteilungen von Polizei, Staatsanwaltschaften und Gericht. Und zuletzt aus (mindestens gegen den Datenschutz verstoßenden) weitergegebenen Informationen durch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Behörden, dem sogenannten Durchstechen von Infos.

Am Ende beobachtet die Presse also nur die Verfahren, die vor Gericht verhandelt werden und bei denen es entweder zu Verurteilungen, Freisprüchen oder Einstellungen kommt. Dass die Staatsanwaltschaft bei der absolut überwiegenden Zahl der von ihr geführten Verfahren diese überhaupt nicht zum Gericht bringt, bekommt die Presse nur höchst selten mit, etwa, wenn es einen Prominenten betrifft und eine Presseerklärung erfolgt.

Um die Dimensionen gegen Unschuldige geführten Verfahren zu erkennen, hilft ein Blick in offizielles Datenmaterial. Laut der vom BKA geführten Polizeilichen Kriminalstatistik wurden im Jahr 2013 insgesamt 6 Millionen Strafverfahren eingeleitet. Bezeichnenderweise spricht die Polizei in ihrer hauseigenen Statistik dabei bereits von „Straftaten“. Die Zahlen weisen aber nur auf das hin, was angezeigt wurde, also was noch aufzuklären ist. Korrekter wäre also, von „Fällen“ zu sprechen. Bemühen wir den Blick in eine weitere Statistik. Laut dem Statistischen Bundesamt wurden im gleichen Jahr rund 755.000 Personen rechtskräftig verurteilt. Jetzt kann man diese Zahl nicht eins zu eins gegeneinander halten, da einige Fälle von einem Jahr ins andere wandern, weil Verfahren auch mit Blick auf schon bestehende Strafen eingestellt werden und so weiter. Aber es macht dennoch die Dimension klar. Nur bei einem Bruchteil aller angezeigten Fälle -nämlich rund 13 Prozent- handelt es sich wirklich um Straftaten. Jetzt ist mir nicht bekannt, dass die Staatsanwaltschaften mal Presseerklärungen über die Einstellungen ihrer Verfahren breittreten oder dass gegenüber dem Journalisten des Vertrauens erwähnt: „Schreib mal über die Einstellung XY, da haben wir uns völlig verrannt.“ Hinter jedem der über 5 Millionen Fälle allein im Jahr 2013 steckt ein Schicksal. Sicher, manchen Beschuldigten juckt so ein Verfahren nicht. Aber es bleiben genug Menschen hinter den Zahlen, für die zu unrecht gegen sie geführte Verfahren nichts anderes ist als eine persönliche Katastrophe, ein schlimmer Einschnitt ins Leben mit Konsequenzen im privaten und beruflichen, vielleicht auch gesundheitlichen Bereich. Hierüber liest man leider herzlich wenig.

Bei Strafverfahren im Bereich des Fußballs basieren Ermittlungen in der Regel auf der „fachkundigen“ Beratung durch sogenannte szenekundige Beamte. Man vermutet eine Tat und wirft sofort sein überdimensioniertes Netz über den Bereich dieser Tat aus, um alle, die sich im Netz verfangen als Beschuldigte zu erfassen. Es gibt unzählige Beispiele allein in den letzten zwei bis drei Jahren, in denen mehrere hunderte Fans in diese Fänge geraten sind. Unbeteiligt, aber zur falschen Zeit am falschen Ort und im Fadenkreuz der sogenannten szenekundigen Beamten. Die Verurteilungsquote im Fußballbereich ist meiner Erfahrung nach noch deutlich geringer als die Verurteilungsquote insgesamt. Wir sprechen also von einer immensen Anzahl von Menschen, gegen die unschuldig ermittelt wird. Die Polizei nimmt das hin und die Presse vermittelt es der Gesellschaft ungefähr nach der Maßgabe, dass wer sich in „Gefahr“ (Fußball) begibt, wohl mit so etwas rechnen müsse. Bestenfalls. Denn gerne werden 100 Verdächtige gleichgesetzt mit 100 Tätern. Die Polizeipressearbeit tut dabei ein Übriges. Wie oft musste die Polizei nach spektakulär klingenden Erstmitteilungen wieder zurückrudern. Nie mit dem Hauch eines schlechten Gewissens.

Und hier setzen Rechtshilfevereine rund um den Fußball an. Für die Personen, die in das völlig überspannte Netz der Justiz geraten, wird Hilfe geboten. Die ist auch dringend nötig, denn allein ein Ermittlungsverfahren wird von den Stadionverbotsrichtlinien der Bundesligavereine als Argument für ein solches Verbot bewertet. Das Stadionverbot befindet sich im zivilrechtlichen Tanzbereich, nicht im strafrechtlichen. Und die Zivilrechtler kümmert die schnöde Unschuldsvermutung nicht viel. Es kam schon viel zu oft vor, dass Fans Jahre lang nicht ihrem Hobby nachgehen konnten, weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Fans, die nicht im Ansatz Gewalt ausgeübt hätten. Normale Fans. Kann man hinnehmen. Tun wir aber nicht.

Darf man die Ermittlungsmethoden der Polizei kritisieren? Na klar. Aber wenn man dies tut, wie etwa in dem im Artikel angesprochenen Fall der Hugos und eine Pressemitteilung auf der Website veröffentlicht und darstellt, dass die Dinge eben nicht so sind, wie die Polizei behauptet, dann zieht man sich den Unmut der Staatsanwaltschaft zu, die ihre Polizei gerne gegen alle berechtigte Kritik schützt. Die Deutungshoheit ist in Gefahr. Das kann die Justiz sich nicht gefallen lassen.

2.

Wie hält man es bei der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung wirklich mit der Unschuldsvermutung? Folgender Satz aus dem Artikel stößt mir dabei übel auf: „Vor der rechtskräftigen Verurteilung ist tatsächlich jeder Verdächtige ‚unschuldig‘.  Weshalb, bitte schön, wird der Begriff unschuldig in Anführungszeichen gesetzt? Das Anführungszeichen nutzt man, wenn nicht wörtliche Rede genutzt wird, zur kritisch-ironischen Distanzierung von der Begrifflichkeit. Der Autor meint es also nicht ernst mit einer der Kernaussagen des Rechtsstaats, sonst würde er nicht diese sprachliche Form verwenden. „Jaja, sind alle unschuldig“ – so will er augenzwinkernd verstanden werden. Das ist schade, gebietet doch Artikel 13 des Pressekodex: „Der Grundsatz der Unschuldsvermutung gilt auch für die Presse.“ Ich spare mir an dieser Stelle die Begründung, warum dieser Grundsatz so wertvoll und wichtig ist, aber ich stelle fest, dass die Ironie an dieser Stelle fehl am Platz ist. Nicht verurteilt gilt im Rechtsstaat als unschuldig. Punkt und Ende der Diskussion.

3.

Womit wir bei der nächsten sprachlichen Irritation im Artikel gelandet wären: Ein Vorstandsmitglied der KBH habe „seine juristische Unschuld verloren„. Klingt nach Verkehr mit der Justiz, was im Zweifel für beide Beteiligte etwas unbefriedigend endete. Um in juristischen Kategorien weiterzudenken soll dies mutmaßlich bedeuten, dass derjenige, der aufgrund einer ersten Verurteilung seine juristische Unschuld verloren hat, bei späteren Vorwürfen nicht mehr auf sein Grundrecht hoffen kann? Dass sein Fall allenfalls unter der Prämisse steht, wer einmal Böses tut, wird es auch wieder gemacht haben? Dass die Unschuldsvermutung ein nerviges Instrument von StrafverteidigerInnen ist, welche die Justiz immer nur in ihrer Effektivität gefährdet?  Ich interpretiere wie folgt: Die Unschuldsvermutung gilt nach Auffassung der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung lediglich bis zur ersten Verurteilung. Und das auch, wenn es um ganz andere Vorwürfe geht – gestern die Unschuld anlässlich eines Betruges verloren, ergo wird sich die Tierquälerei schon ereignet haben. Habe ich in diesem Blog schon von Artikel 13 des Pressekodex berichtet? Ach ja.

4.

Anders als ’normale‘ Verdächtige kontern sie oft offensiv, greifen die Ermittler an„. Was sind normale Verdächtige? Was sind unnormale Verdächtige? Nehmen sich nur Ultras dank ihrer Rechtshilfevereine professionellen rechtlichen Beistand oder darf nicht auch der Nicht-Ultra einen prominenten Anwalt beauftragen? Soweit ich es in meiner juristischen Ausbildung und gesellschaftlichen Sozialisation gelernt habe, ist es jedem Verdächtigen gestattet, sich gegen Vorwürfe zur Wehr zu setzen und zwar mit allen Mitteln, die ihm dafür legal zur Verfügung stehen. Angeprangert wird hier der Solidaritätsgedanke, der hinter Rechtshilfevereinen steht und der die Betroffenen zurecht in die Lage versetzt, sich professioneller Hilfe bedienen zu können. Aber nicht vergessen: Durch diese Hilfe kommt es erst zur „Waffengleichheit“ im Prozess des ansonsten übermächtigen Staats, der sich in jeder einzelnen Verhandlung eines professionellen Juristen in Form eines Staatsanwalts bedient. Aus diesem Grunde darf sich ein jeder eines Verteidigers bedienen. Eigentlich eine Binsenweisheit. Gegenerklärungen zu polizeilichen Falschmitteilungen sind ebenfalls ein erlaubtes und probates Mittel. Wenn nicht sogar eine moralische Verpflichtung einer Solidaritätsgemeinschaft.

5.

Und dann kommt es zur Berichterstattung um eine Berufung eines Vorstands der Königsblauen Hilfe. Eine Information, die öffentlich nicht zugänglich ist. Man kann aber anhand des oben geschilderten erkennen, von wo eine solche Information, ob sie nun der Wahrheit entspricht oder nicht, lanciert wurde. Auch in der Staatsanwaltschaft Essen werden die von Vereinsseite veröffentlichten Mitteilungen zur Kenntnis genommen. Und dort weiß man über den Stand laufender Verfahren Bescheid. Eins plus eins.

Wenn aber der Bericht spekuliert und unterstellt, die betreffende und verurteilte Person, gegen den noch ein anderes Strafverfahren laufen soll, nutze die Königsblaue Hilfe zu seiner Verteidigung, so irrt der Autor. Es stimmt nicht. Die genannte Person hat sich im gesamten Verfahren und zu keiner Zeit von Anwälten der Königsblauen Hilfe verteidigen lassen und hat für seine Verteidigung keine Zuschüsse der Königsblauen Hilfe erhalten. Nicht, dass dies die Öffentlichkeit etwas anginge, aber die Kernbehauptung des Artikels, der Verein habe den „Kopf der Hugos“ sachlich oder personell unterstützt, ist schlicht und einfach falsch. Hätte man aber auch mal fragen können.

Weiterhin soll der Verein durch die Behauptung „Bestrafung eines Vorstandsmitglieds“ diskreditiert werden. Dabei wird übersehen, dass man -im Gegensatz zu der Staatsanwaltschaft- eine völlig unhierarchische Struktur hat. Die alltägliche Arbeit wird über viele Köpfe verteilt, viele ehrenamtliche Mitglieder stemmen die Alltagsarbeit und werden im Wesentlichen von zwei Idealen angetrieben: Der Liebe zum Verein Schalke 04 und einem ausgeprägten Sinn für Rechtsstaatlichkeit. Es macht Spaß, mit diesen Leuten zu arbeiten und gemeinsam Erfolge zu erzielen. Würde man den Gesetzeskonflikt eines Einzelnen zum Maßstab bei der kollektiven und erfolgreichen Zusammenarbeit Vieler machen, könnte die FC Bayern München AG ihren Laden schon längst zumachen.

Ganz nebenbei sei darauf verwiesen, dass der neuerliche Vorwurf gegen das die Unschuld verloren habenden Mitglieds nach der eigenen Darstellung des Artikels rein gar nichts mit einer Fußballthematik zu tun hat.

6.

Was bei alledem nicht vergessen werden darf, ist die Vereins- und Anwaltsarbeit, die über das reine strafrechtliche Verteidigen hinausgeht. Die Fußballszene wird heutzutage durch Politik und Polizei in einem unerträglichen Maße kriminalisiert. Man könnte meinen, dass mediale Interesse am Fußballsport führt dazu, sich durch besonders populistische Maßnahmen ins rechte Licht zu rücken. Dies gilt insbesondere für meinen Lieblingsinnenminister Ralf Jäger. Ich wage die Behauptung, dass auf einem jeden Flohmarkt mehr Straftaten begangen werden als an einem kompletten Bundesligaspieltag. Aber es ist wie es ist – die Polizei hat und pflegt ihr Feindbild, was wiederum zu gruseligen Folgen rund um polizeiliche Arbeit führt: Da werden an Spieltagen polizeirechtliche Betretungsverbote erteilt, man darf die Bundesrepublik Deutschland bei europäischen Auswärtsspielen nicht verlassen, es werden Anordnungen verfügt, wonach Fans zur Abgabe von DNA veranlasst werden sollen, einige sollen sich erkennungsdienstlich behandeln lassen, ohne dass es eine Verurteilung jemals gegeben haben soll. Von offizieller Datensammelwut und dem Führen von Geheimdateien mal ebenso abgesehen wie Einkesselungen Unbeteiligter rund um Fußballspiele aufgrund von Fehleinschätzungen der jeweiligen Situation. Allesamt krasse Grundrechtseingriffe. Und wen treffen diese? Na klar, wieder allzuoft diejenigen, die sich noch nie etwas zu schulden haben kommen lassen. Es ist teilweise wirklich absurd, wie man polizeiseitig vorgeht. Schattenboxen. Blinder Aktionismus.

Ich wünschte mir diesen polizeilichen Enthusiasmus bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus und anderer menschenverachtender Taten. Allerdings in der Hoffnung, dass man sich dann zielführend um die Täter kümmert und nicht einfach irgendwo herumstochert, nur um zu zeigen, dass man etwas tut.

Fazit: Die Art und Weise, wie Politik und Polizei den Fußball und seine Anhänger behandeln, führt zur Notwendigkeit eines Rechtshilfevereins wie der Königsblauen Hilfe und damit zu einer Art Gegenöffentlichkeit. Natürlich gibt es Straftaten rund um das Fußballspiel und auch Gewalttätigkeiten. So wie in jedem Lebensbereich einer komplexen Gesellschaft. Die außerordentliche Kriminalisierung durch tatsächliches Handeln der Polizei und ihre Pressearbeit mit all ihren schlimmen Folgen für die Betroffenen nehmen wir jedoch nicht hin.