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Wo es am schönsten ist

By 21. Februar 2011Allgemein

Manchmal muss auch ich mal einsehen, dass es Ausnahmen von der Regel gibt:

Der Mandant entstammte dem Obdachlosenmillieu und war in einem einzigen Prozess mehr als ein Dutzend Straftaten angeklagt. Dabei waren diese Taten alle schemengleich: Er wurde -stets alkoholisiert- beim Ladendiebstahl (ausschließlich nur Kleinigkeiten – einmal war es ein Adventskranz) ertappt und pöbelte dann relativ ungeniert um sich, was auch die ihn dann stets verhaftende Polizei nicht aussparte. Unschöne Dinge folgten, in einem Fall erledigte er sein großes Geschäft aus Zeitgründen direkt nach der Verhaftung auf der Rückbank des Polizeiwagens.

Irgendwann landete er dann in Untersuchungshaft. Von dort aus schrieb er mich an und so landete auch ich in Untersuchungshaft, um ihn zu besuchen und kennenzulernen. Mir entgegen trat ein älterer und stämmiger Herr mit leiser, ruhiger Stimme. Ein sehr angenehmer Umgang, völlig im Gegensatz, was man nach Aktenlage erwarten sollte. Er schilderte mir seine Sicht der Dinge, wobei diese sich geringfügig anders darstellte. Ein paar Diebstähle habe er begangen, einige andere nicht. Den Adventskranz habe er auf gar keinen Fall geklaut, was solle er auch damit, er sei nicht gläubig. Die Ausraster? Naja, sehr übertrieben dargestellt aus seiner Sicht.

In der Folge besuchte ich ihn, wie es so üblich ist, zur Vorbereitung auf den Termin einige Male. Er wurde dabei immer ausgeglichener. Einmal merkte ich sogar, daß er während meines Besuches sehr ungeduldig war. Ich müsse entschuldigen, aber er habe nicht so viel Zeit, wurde mir entgegnet. Die Sportgruppe habe gerade angefangen. Ob wir es schnell machen könnten. Konnten wir, da es nicht viel neues gab und ich mir eigentlich dachte, daß er sich über meinen Besuch freut. Aber ich will ja nicht stören.

Im Prozess gab es dann eine relativ hohe Strafe ohne Bewährung, was nicht zuletzt den reichlichen Vorstrafen und den ohnehin gestrengen Maßstäben des betreffenden Amtsgerichts geschuldet war. Wir mussten also in die Berufung gehen.

Wieder gab es meine regelmäßigen Besuche im Knast zur Vorbereitung der Berufungshauptverhandlung. Wenige Tage vor der entscheidenden Verhandlung hieß es dann: „Herr Wings, mir geht es so gut hier. Ich habe meine Gruppen, meine Treffen, meine Sozialkontakte, das Essen ist gut, ich habe 20 Pfund zugenommen und bin sogar fromm geworden. Sorgen Sie dafür, dass ich hier bleiben kann. Tun Sie was!“ Er hatte sogar der zuständigen Richterin beim Landgericht einen Brief ähnlichen Inhalts geschrieben, die mich dann auch prompt anrief, um zu fragen, was da los ist. Meine Meinung war durchaus, er meint es ernst und schlug vor, dass wir angesichts der neu gewonnenen Frömmigkeit nun auch den Diebstahl des Adventskranzes einräumen und es im Gegenzug eine etwas abgemilderte Strafe geben sollte, die auf keinen Fall zur Bewährung ausgesetzt werden sollte. Sie war einverstanden.

Dann die neuerliche Hauptverhandlung: Der Mandant machte so einen geläuterten, positiven, glaubwürdigen und liebenswerten Eindruck auf alle Beteiligten, dass sich sogar der Staatsanwalt zu der Bemerkung und Frage hinreissen liess, er könne sich vorstellen, trotz der vielen Vorstrafen ausnahmsweise auf Bewährung zu plädieren und wo der Mandant denn nach einer etwaigen Entlassung hin könne. Da sah ich in einen entsetzten, schockierten Gesichtsausdruck. Er wurde unruhig und drängte mich wieder, einzuschreiten.

Ich muss schon sagen, wie schwer es mir fiel. Da aber der Wunsch Befehl ist, ergriff ich das Wort und erinnerte die Richterin an unsere Absprache. Teil dieser war, dass es keine Bewährung geben solle. Der Staatsanwalt platzte förmlich („Wir sind doch kein Hotelbetrieb“ etc.), aber ich beharrte auf der Haftstrafe.

Und so kam es, wie gewünscht. Die recht hohe Strafe wurde angemessen zurückgefahren und blieb ohne Bewährung. Ein Ergebnis, mit dem alle außer dem Hotelier Staatsanwalt zufrieden waren. Der Mandant bedankte sich, so wie ich es selten erlebt hatte und war -völlig ironiefrei- glücklich.