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Eine weitere Episode Polizeigewalt

By 4. April 2019Allgemein

Gestern beim Amtsgericht Bremen:

Dem Mandanten wurde ein Delikt auf einem Bremer Volksfest, dem Freimarkt, vorgeworfen. Er war gemeinsam mit einem Begleiter gegen Mitternacht dort unterwegs, als sich wegen einer vermeintlichen Handlung seinerseits, die er bestreitet, ein kleiner Tumult gebildet hat. Einsatzkräfte des Security-Diensts kamen hinzu und setzten die beiden Männer fest. Die Gruppen wurden getrennt und die beiden vorläufig Festgenommenen wurden dann der Polizei übergeben.

Nun wurde vor dem Amtsgericht einer der beiden Security-Mitarbeiter vernommen. Er schilderte zunächst das, was dem Mandanten inhaltlich vorgeworfen wurde (ohne dass diese Aussage zur Verurteilung reichen würde, aber darauf kommt es auch nicht an). Dann aber berichtete er von der „Übergabe“ der beiden Verdächtigen an die Polizei: Beide Verdächtige, denen deutlich anzusehen war, dass sie keine deutschen Wurzeln haben, hätten laut geschrieen. Einer der beiden Festgenommenen sagte hierzu, er hätte die Polizei auf die Bandscheibenproblematik des anderen, der wenig deutsch spricht, hingewiesen. Trotzdem seien die beiden, so der Securitymann weiter, von der Polizei zu Boden gebracht worden, Beamte hätten sich auf den Rücken der beiden gekniet. Anschließend hätten Beamte die bei sich geführten sogenannten Bodycams, mit denen Einsätze gefilmt werden, bewusst ausgeschaltet, dann einen der beiden mit Schlägen traktiert und schließlich die Bodycam wieder eingeschaltet. Sodann sei es zur Polizeiwache gegangen. Protokolliertes Resultat sind Prellungen, Rückenbeschwerden, eine blutige Nase.

Das ist natürlich starker Tobak. Ganz egal, was vorher passiert ist und ganz unabhängig von der Frage, wie individuell nervig der Festnahmeeinsatz für die Polizisten gewesen sein mag. Es ist einerseits schlicht und einfach eine Körperverletzung im Amt, bei der bewusst jegliches Beweismittel im Vorfeld vernichtet wird. Schläge mit Ansage. Schläge um des Schlagens willen.

Natürlich wird man die Aussage des Securitymitarbeiters würdigen und überprüfen müssen. Wenn ich aber die Kriterien an den Tag lege, mit denen regelmäßig Aussagen von Polizeibeamten quasi automatisch als wahr bewertet werden, dann muss das auch hier gelten. „Warum sollten Polizeibeamte vor Gericht lügen? Warum sollten sie ihre Karriere wegen einer Falschaussage riskieren?“, so hört man es ständig, wenn absurdeste Aussagen getätigt werden, wenn etwa Polizeibeamte eine Situation im 360 Grad-Winkel beobachtet haben wollen und sekundenbruchteilgenau alles wiedergeben können. Warum sollten sie die Unwahrheit sagen? Nun, ganz einfach – weil sie Menschen mit Emotionen sind und/oder sich auch mal irren können. Jeder setzt seine Karriere aufs Spiel bei einer Falschaussage, nicht nur Polizeibeamte. Und warum also sollte ein Securitymitarbeiter eine Falschaussage riskieren, bei der er zudem mit der aktiven, automatisierten Gegenwehr des gesamten Polizeiapparates fürchten muss? Nein, diese Aussage hatte Mut und sie war differenziert insoweit, als dass die Aussage im ersten Teil auch den Mandanten belastete und im zweiten Teil zur Festnahmesituation überging.

Was sagt denn die Polizei dazu? Auch ein Beamter wurde vor Gericht gehört. Ja, es sei mit Bodycams gearbeitet worden bei diesem Einsatz. Aber leider hätte es einen technischen Defekt gegeben, so dass ausgerechnet diese Szenen nicht zur Verfügung stehen. Nein, ausgeschaltet habe man die Bodycam nicht und auch nicht grundlos geschlagen. Wenn der Securityzeuge dies so behauptet, dann würde dieser lügen. So einfach ist das.

Auch dem Richter ist natürlich aufgefallen, dass es „unglücklich“ sei, dass diese Aufnahmen wegen eines angeblichen Defekts nicht zur Verfügung stünden. Aber nun geht es in diesem Verfahren ja auch nur am Rande um diese ungeheuerliche Situation, sondern in erster Linie um den Vorwurf vom Freimarkt. Die andere Situation wird in dem jetzt folgenden Verfahren wegen Körperverletzung im Amt aufzuklären sein. Man darf gespannt sein, welche Legende man sich für die Notwendigkeit, den Mandanten zu schlagen wird einfallen lassen. Und mit welcher Begründung das geschilderte bewusste Ausschalten der Bodycam unter den Tisch fällt bzw. für unglaubhaft gehalten werden wird.

Man kann jedenfalls auf vielen Ebenen entsetzt sein. Es ist ein Unding, dass die Polizeibeamten selbst und die Institution Polizei überhaupt die Möglichkeit hat, über die Videodaten zu verfügen. Das macht nur Sinn, wenn man unterstellt, Polizeigewalt sei kein Thema. Nach Innenminister Seehofer ist Polizeigewalt auch kein Thema; sie taucht nicht auf, wenn über Kriminalitätsentwicklung gesprochen wird. Dabei sind Verfehlungen von Polizistinnen und Polizisten besonders dramatisch und müssten dringend aufgeklärt wird, eben um schwarze Schafe aus dem Polizeidienst zu entfernen. Jeder Fußballfan, jede Demonstrantin, jeder Demonstrant kann ein Lied davon singen, wie Polizistinnen und Polizisten sich gelegentlich ohne jede Konsequenz (jedenfalls nicht für die Täter) aufführen. Politisch wird dies aus Scham unter den Tisch gekehrt, glücklicherweise gibt es aber Forschungsprojekte zu diesem Thema wie etwa das des Lehrstuhls für Kriminologie bei der Ruhr-Universität Bochum. Man kann die Politik nicht oft genug ermahnen, sich dieses Themas ernsthaft anzunehmen. Eben, um verlorenes Vertrauen in die Polizei wieder herzustellen.

Funfact: Der als Zeuge vernommene Polizist erwähnte noch, dass während der Festnahme eine Gruppe Bremer Ultras auf den Vorfall aufmerksam wurden und „Ärger gemacht“ hätten. „Aber die sind ja sowieso immer gegen uns.“ Wo mag das Gefühl nur herkommen?