Skip to main content

Bayerische Verhältnisse im Ruhrgebiet

By 29. Oktober 2018März 23rd, 2023Allgemein

Wenn man mich gefragt hätte, wo es in Deutschland die härtesten Strafen gibt, dann hätte ich wie aus der Pistole geschossen „in Bayern“ geantwortet. „Wo denn sonst?“ Ich hatte schon das Vergnügen -oder manchmal auch Mißvergnügen- in allen 16 Bundesländern verteidigen zu dürfen. Dabei ist jede Reise, jede neue Erfahrung Gold wert. Natürlich ist jede Richterin, jeder Richter vom eigenen Stil her ein bisschen anders, aber regionale Unterschiede sind deutlich erkennbar. Durchaus freundlich und umgänglich, aber knallhart, so habe ich es bislang in Bayern erlebt. Ich kann mich an ein Verfahren eines Angeklagten aus NRW erinnern, wo Richter und Staatsanwalt beim Verlesen der vierten Vorstrafe (aus NRW) laut zu lachen anfingen: „Wie bitte? Bei der vierten Vorstrafe immer noch Geldstrafe? Was stimmt bei Ihnen nicht?“ In Bayern gibt es die härtesten Urteile, so viel war mir klar. Auch in Frankfurt war es immer hart, im Osten sind sie stattdessen immer freundlich, in Hamburg seltsam, in Köln und im Rheinland immer fröhlich. Klischees eben.

Aber eigentlich ist ja schon die Frage komisch: Wo gibt es in Deutschland die härtesten Strafen? War da nicht mal was mit Rechtsstaat und Gleichheit und so? Müsste nicht jeder Tomatendieb, jeder Bankräuber, jeder Steuerbetrüger und jeder Polizistenbeleidiger ziemlich gleich bestraft werden, egal wo die Tat begangen oder angeklagt wurde? Die Antwort lautet: Ja, müsste er. Die Realität lautet: Auf keinen Fall.

Zum Glück gibt es die Wissenschaft und eine Studie von Dr. Volker Grundies, über die bei Spiegel Online („Wo Deutschlands strengste Richter sitzen„) berichtet wurde. In der Studie wurden 1,5 Millionen Entscheidungen aus den Jahren 2004, 2007 und 2010 erfasst und nach Deliktsgruppen und Ort der Verurteilung statistisch ausgewertet. Anschließend kann man ablesen, wo der Bürger oder die Bürgerin durchschnittlich am härtesten oder mildesten bestraft wird. Und siehe da – es gibt bundesweit signifikante Unterschiede. Es geht bei der Strafzumessung folglich statistisch betrachtet schlicht und einfach ungerecht zu.

Das Gegenargument, dass jeder Einzelfall aber doch individuell zu betrachten sei, jede Tatbegehung anders, jeder Mensch sich anders gibt und es folglich keine Vergleichbarkeit in der Masse gäbe, kann nicht verfangen: Denn bei dieser Datenmenge verschwinden die individuellen Unterschiede des Einzelfalls in der Masse. Statistisch gibt es natürlich immer Ausreisserfälle nach oben und nach unten. Aber die gibt es statistisch eben überall. Auch in Bayern wird es Richter geben, die mal Milde walten lassen und auch in Kiel, einer nach den Ergebnissen eher mild bestrafenden Region, wird mal lebenslänglich verhängt. Kurzum: Man kann aufgrund der Masse an untersuchten Daten vergleichbar darstellen, wo hart bestraft wird und wo weniger hart.

And the winners are…

Und so kommen wir zu den Ergebnissen: Es gibt in der Bundesrepublik drei Hardlinerregionen. Diese sind:

  • Südbayern
  • Landgerichtsbezirk Frankfurt am Main

und quasi als Faustschlag in die Magengrube des Autors

  • der Landgerichtsbezirk Essen

Nördlich von Bayern gibt es also ausschließlich zwei Landgerichtsbezirke, dazu gehören neben dem jeweiligen Landgericht noch die dazu gehörenden Amtsgerichte, die in der selben Hardcoreliga spielen: Frankfurt und Essen. Letzteres macht mich zugegeben etwas traurig, denn ab sofort habe ich weniger Argumente, über die Bayern zu lästern. Im Gegenteil, denn während es in Bayern anscheinend normal ist, bei den Strafen über die Strenge zu schlagen, ist es dies laut der Studie von Grundies in NRW nicht. Zwar ist NRW auch alles andere als mild, aber dort wird zumindest überwiegend mit durchschnittlichen Strafhöhen operiert und so soll es ja sein. In NRW gibt es 19 Landgerichtsbezirke. Statistisch urteilen 11 von diesen 19 Bezirken im durchschnittlichen Bereich. In weiteren sechs Bezirken geht es leicht überschnittlich zu. In einem (Detmold) stark überdurchschnittlich. Und ausgerechnet mein Heimatbezirk Essen mit den Amtsgerichten aus Essen, Gelsenkirchen, Bottrop, Hattingen, Marl, Dorsten und Gladbeck schießt den Vogel ab und bestraft seine Menschen mit unnachgiebiger, bayerischer Härte. Verlässt man den Essener Bezirk, sieht die Welt schon viel freundlicher aus und verlässt man gar NRW in Richtung Niedersachsen wird es gleich wesentlich humaner. Und dabei ist mir nicht zu Ohren gekommen, dass man in Niedersachsen unsicherer lebt als in NRW.

Die Ursachen

Woher aber kommt diese Unterschiedlichkeit? Denn die Grundlage für Bestrafung, das Strafgesetzbuch, sind in jedem Bundesland und in jedem Landgerichtsbezirk identisch. In Essen und in Bayern stehen nicht versteckt andere Strafmaße im Strafgesetzbuch und trotzdem wird man dort härter bestraft. Unter dem Titel „Richter und Staatsanwälte brauchen Orientierung“ macht sich Prof. Kaspar bei Spiegel Online Gedanken über die Ursachen. So folgert er, dass junge Richterinnen und Richter, Staatanwältinnen und Staatsanwälte lokal über praktische Strafmaße informiert werden und diese Information sich dann weiter tradiert an die jeweils nächste Juristengeneration. Während also den jungen JuristInnen in Offenburg oder Kiel beigebracht wird, dass ein nicht vorbestrafter Ersttäter bei Beledigung von PolizistInnen vielleicht gar nicht bestraft werden muss und das Verfahren eingestellt werden kann, wird dem juristischen Nachwuchs in Essen und Passau erklärt, dass es sich dabei um schlimme Straftaten handelt, die mit mindestens 50 Tagessätzen Geldstrafe zu verurteilen sind. Und das setzt sich fort.

Ich habe allerdings noch einen weiteren Erklärungsansatz, der mich gerade im Essener Bezirk schon länger beschäftigt. Ist man mit einem Urteil nicht einverstanden, kann man es in der Regel anfechten. Man kann in Berufung und/oder Revision gehen und versuchen, auch die Strafhöhe überprüfen zu lassen. Bei kleineren und mittleren Delikten entscheiden dabei zuletzt das Oberlandesgericht, bei schweren Delikten der Bundesgerichtshof über die entsprechenden Revisionen. Und bei diesen Revisionsgerichten sind sogenannte Senate eingerichtet, die über die Revisionen entscheiden. Diese sind wiederum jeweils für die untergeordneten Bezirke zuständig. Das bedeutet, dass zum Beispiel beim Oberlandesgericht Hamm ein bestimmter Senat, also immer die selben Richterinnen und Richter, zuständig sind für die Fälle aus Essen (und noch für ein anderen Bezirk). Alle Fälle aus dem Bezirk Essen landen immer bei den selben Personen.  Und beim BGH ist das nicht anders. Dort landen (mit wenigen Ausnahmen für spezielle Rechtsfragen) alle Fälle aus einem Oberlandesgerichtsbezirk bei den selben Richterinnen und Richtern des jeweiligen Senats. Zum Beispiel landen alle Fälle aus dem OLG-Bezirk München beim sogenannten 1.Strafsenat des BGH.

Wenn aber die jeweils für die Örtlichkeit zuständigen Senate die ihnen untergeordneten Gerichte nicht ausbremsen (und nicht für eine einheitliche Bestrafung sorgen), dann machen die untergeordneten Gerichte fröhlich weiter mit ihrer tradierten und zu harten Sanktionierung. Wenn die Korrektur von oben nicht erfolgt, denken die untergeordneten Amts- und Landrichterinnen und -richter, sie könnten einfach so weitermachen und es wird sich nichts ändern. Als Anhänger einer ausgeglichenen und gerechten Gesellschaft ist man allerdings daran interessiert, dass gleiches auch gleich bestraft wird. Solange aber Menschen über Menschen richten und nicht etwa künstliche Intelligenz, solange wird es natürlich Unterschiede in der Beurteilung geben. Der eine ist eben der Auffassung, eine Polizistenbeleidigung sei schlimmstes Unrecht, die andere ist der Auffassung, man müsse einem millionenschweren Steuerbetrüger seine angebliche Lebensleistung zugute halten. Die Menschen sind unterschiedlich und das gilt auch für die Kontrolleure bei den Revisionsgerichten. Will man Strafhöhen jedoch örtlich angleichen, dann sollte man vielleicht darüber nachdenken, die Kontrolle bei der Revision nicht nach dem jeweiligen Ort zu bestimmen. Man könnte zum Beispiel die bei den Revisionsgerichten eingehenden Fälle nach dem Zufallsprinzip auf die jeweiligen Senate verteilen. Dann weiß der oder die untergeordnete RichterIn nicht, wer das Urteil anschließend zur Korrektur vorgelegt bekommt und urteilt im Zweifel maßvoller als wenn man davon ausgehen kann, dass Urteile von oben ohnehin gehalten werden. Weiß man nicht, wer einen kontrolliert, könnte dies also zu mehr Gerechtigkeit führen, zumindest zu mehr örtlicher Gerechtigkeit.

Und dann bräuchten sie auch in der Essener Landgerichtskantine keine Weißwürste importieren.