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Mit Chips und Cola zur Pflichtverteidigung

By 7. Juni 2016Allgemein

Sind Sie mein Pflichtverteidiger oder ein richtiger Anwalt?“ fragte mich ein junger Mandant neulich in der JVA, als ich ihn zum ersten Mal besuchte und wir uns kennenlernten. Sein Vater hatte mich beauftragt, somit war ich in diesem Augenblick zunächst mal nicht sein Pflichtverteidiger. Der Mandant war erleichtert. Woher kommt aber dieses Misstrauen, denn auch der Pflichtverteidiger ist ja „ein richtiger Anwalt“? Nun, diesen Gedanken haben die Mandanten, die es verpasst haben, sich ihren Pflichtverteidiger selber auszusuchen. Denn dieses Recht hat jeder. Das Recht auf einen Pflichtverteidiger seiner eigenen Wahl hat jeder, der in einer „schwierigen Sache“ angeklagt wurde oder der inhaftiert ist. Und es gibt noch ein paar denkbare Möglichkeiten, das steht alles in § 140 StPO ist. Eine „schwere Sach- und Rechtslage“ liegt zum Beispiel dann vor, wenn man im Falle einer Verurteilung mit einer Haft von einem Jahr rechnen muss. Oder ein Bewährungswiderruf in anderer Sache droht. Oder die Rechtslage einfach nur total kompliziert ist.

Wenn das Gericht meint, ein solcher Fall liegt vor, dann bekommen die betroffenen Menschen die Anklageschrift mit einem Satz im Kleingedruckten, in dem steht, man möge innerhalb einer Woche einen Anwalt seiner Wahl benennen. Dieser werde dann zum Pflichtverteidiger. Heißt im Klartext: Der Staat übernimmt dessen Kosten (und versucht, sich diese hinterher beim Verurteilten wiederzuholen). Für den Anwalt ist das nicht so schlecht. Er bekommt als Pflichtverteidiger zwar keine Reichtümer, aber immerhin ist das Honorar sicher.

Hat man den Satz aber überlesen oder ignoriert ihn, dann wird sich der Richter oder die Richterin den Pflichtverteidiger auswählen. Das ist irgendwie keine so richtig gute Konstellation. Und ein großes Ärgernis für alle engagierten Verteidigerinnen und Verteidiger, denn diese suchen sich die allermeisten Gerichte nämlich nicht als Mitspieler für einen Prozess aus. Man will sich ja keine Probleme in den Gerichtssaal holen, also nimmt man stattdessen einen netten, unkomplizierten Anwalt. Einen, der sich freut, wieder ein Mandat zu haben und der bestimmt ganz, ganz freundlich ist, um auch ein nächstes Mal bedacht zu werden. So erklärt sich auch die Skepsis des jungen Mandanten, der wohl schon einige nicht so richtig gute Erfahrungen mit diesen vom Gericht ausgesuchten Anwälten gemacht hat.

Als Verteidiger der Wahl kann man jedoch auch in einem schon laufenden Fall beantragen, zum Pflichtverteidiger benannt zu werden. Das hat dann den Vorteil, dass das Honorar gesichert ist und für den Mandanten, dass er erstmal kein weiteres zahlen muss. Wenn eben die Sache nur angemessen schwer ist. Und um diese Frage dreht sich oft im Vorfeld ein Streit. Die Justiz will nun einmal nicht gerne zahlen und nimmt eine „Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage“ eher selten an.

So auch neulich in einem Betrugsfall. Mein Antrag auf Beiordnung zum Pflichtverteidiger wurde im Vorfeld abgelehnt. Ich hatte argumentiert, dem Mandanten sei ein Betrug mit recht hohen Summen vorgeworfen worden, was die Sache schwer mache. Denn im Falle einer Verurteilung könnte er sich einem Schadensersatzprozess mit diesen hohen Summen stellen, so dass der Strafprozess eine weitreichende Weiche stellen wird. Das reichte dem Gericht aber nicht – Antrag abgelehnt; der Fall sei normal und nicht schwer. In der folgenden Verhandlung war der Mandant auch in der Sache geständig, so dass es immer noch nicht wirklich „schwierig“ war. Trotz Geständnis in der Sache wollte ich dennoch in einem der Anklagepunkte auf einen Freispruch hinaus – dem Mandanten wurde unter anderem vorgeworfen, sich einen Versicherungsvertrag erschwindelt zu haben. Er habe bestimmte Fragen falsch beantwortet. Hat er zwar; ich behauptete aber, die Versicherung hätte exakt den gleichen Vertrag mit dem Mandanten dennoch abgeschlossen, selbst wenn er die Fragen richtig beantwortet hätte. Denn Versicherungen sind mindestens so gierig wie Anwälte. Und dann läge im Ergebnis trotz einer Lüge kein Vermögensschaden und somit kein Betrug vor. Es folgte eine rund 20-minütige Diskussion zwischen Richter und Staatsanwalt, ob das denn sein könne. Während ich mich (mit virtuellen Chips und Cola vor mir) zurücklehnte und den beiden Diskutanten zuhörte, wogen diese ihre Argumente hin und her und konnten sich nicht zu einer (verurteilenden) Meinung durchringen. Man blätterte in Versicherungsbedingungen, wälzte die Verträge, stellte Hypothesen auf, kramte in der Akte und kam nicht zu einer eindeutigen Meinung. Nach einer gewissen Zeit meldete ich mich zu Wort und wies darauf hin, dass mein Antrag auf Pflichtverteidigung wohl fehlerhaft abgelehnt worden sei. Wenn Richter und Staatsanwalt über diese Frage satte 20 Minuten diskutieren, darf ich wohl von einer „schwierigen Rechtslage“ ausgehen. Man lächelte kurz und ordnete mich zum Pflichtverteidiger bei. Danach wurde dieser Anklagekomplex auch noch eingestellt und alle waren zufrieden. Win-win-win.