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5 Jahre bis zum Freispruch

By 6. Juni 2011Allgemein

Die „Tat“ soll sich 2006 ereignet haben. Eine Nötigung plus eine gefährliche Körperverletzung sollen der Mandant und ein anderer begangen haben. Den anderen konnte das angebliche Opfer nicht benennen, meinen Mandanten schon. Der wurde dann vor dem Amtsgericht angeklagt. Er hatte damals keinen Verteidiger und wurde zu sage und schreibe 1 Jahr und 3 Monaten Knast verurteilt – ohne Bewährung. Das ist schon mal ein Hammer, geschweige denn ein Skandal. Denn selbst die in meinen Augen insoweit schon sehr rückschrittliche und sparsame Justiz ordnet ab einer Straferwartung von etwa einem Jahr einen Anwalt als Pflichtverteidiger bei. Nicht so das Amtsgericht Wanne-Eickel (bzw Herne-Wanne, aber Wanne-Eickel klingt lustiger). Das verurteilte einfach mal so.

Der Mandant legte selber Berufung ein. Das Landgericht Bochum erkannte dann, dass da jemand gefehlt hat und bestellte einen Pflichtverteidiger (nicht mich) für den Mandanten. So ging es dann in die Berufungsverhandlung, sie fand am Tag X um 11 Uhr statt. Kurz vor 11 kam der Mandant am Landgericht an und wurde von einer langen Schlange an der Einlaßkontrolle überrascht. Was zur Folge hatte, dass er erst 20 Minuten nach 11 Uhr zum Gerichtssaal hetzte. Auf dem Weg dorthin kam ihm sein Pflichtverteidiger bereits entgegen und beruhigte ihn mit den Worten, er brauche jetzt nicht mehr rennen, der Prozeß sei schon verloren. Tatsächlich – nach 15 Minuten Wartezeit wurde die Berufung verworfen, weil der Mandant nicht da war. Aber anstatt den Mandanten wieder mit zurück in den Saal zu nehmen, um mit Engelszungen auf die Richter einzureden, damit die Verhandlung doch noch durchgeführt werden konnte, ging der Anwalt wieder. Verloren.

Die beiden – Anwalt und Mandant – versuchten zu guter letzt eine Beschwerde gegen die Verwerfung, da die Schlange am Einlass so unerwartet lang war. Erfolglos. Jetzt war das Urteil rechtskräftig.

Mit der Ladung zum Haftantritt in der Hand und völlig verzweifelt gelangte er dann zu mir und wir versuchten es mit einem Wiederaufnahmeantrag. Wiederaufnahmen, darüber schrieb ich bereits, sind außerordentlich selten erfolgreich. Wenn rechtskräftige Urteile einmal in der Welt sind, verteidigt sie die Justiz mit Händen und Klauen, selbst wenn sie nach Außen hin erkennbar falsch sind. Selbst an Urteile aus der NS-Zeit traute sich die bundesdeutsche Justiz lange nicht heran. Für einen erfolgreichen Wiederaufnahmeantrag benötigt man also im wesentlichen zwei Gründe: Zum einen Argumente für die Wiederaufnahme des Verfahrens und zum anderen viel, viel Glück.

Und wir hatten Glück: Das Amtsgericht Hagen war nun für den Antrag zuständig und dort trafen wir auf einen ausgesprochen angenehmen Richter, der sich wirklich Mühe gab und offen für neue Argumente war. Zum anderen hat die Staatsanwaltschaft mit Blick auf das Wiederaufnahmeverfahren vorerst darauf verzichtet, die Haft zu vollstrecken. Und schließlich haben auch die von uns benannten neuen Zeugen, insbesondere der angebliche Mit“täter“ des Mandanten, die Version des angeblichen Opfers nicht bestätigt. Es blieben ganz erhebliche Zweifel an dem Tatablauf, so dass das Amtsgericht nach drei Verhandlungstagen und einer Wiederaufnahmezeit von nahezu zwei Jahren das falsche Urteil aufhob und den Mandanten freisprach.

Es lohnt sich eben manchmal doch, Wege zu suchen, wenn auf den ersten Blick schon alles verloren scheint. Wiederaufnahmen sind solche Wege.